Hauptsache, es geht aufwärts
Thüringen als Standort der Luftfahrtindustrie? In der breiten Masse löst dieser Gedanke sicher Stirnrunzeln aus.
Aber wer etwas tiefer in die Thüringer Wirtschaft blickt, der entdeckt dort gleich mehrere Unternehmen. N3 zum Beispiel, die am Erfurter Kreuz Flugzeugturbinen warten. Oder einige Kunststoffunternehmen, die Teile für Airbus herstellen. Diverse Zulieferer und Serviceunternehmen. Wer sich direkt für einen Flugzeugbauer interessiert, wird am Eisenacher Flugplatz Kindel fündig.
Der Eisenacher Unternehmer Sven Lindig gilt als Innovator. Wenn man über Digitalisierung oder über New Work reden will, kommt man in Thüringen nicht an ihm vorbei. Vor einigen Jahren, so sagt er, habe er sich die Frage gestellt, wie er sich unternehmerisch weiterentwickeln wolle. Wie der Schuster bei seinen Leisten bleiben, oder lieber neue Herausforderungen in Angriff nehmen? Er entschied sich für Letzteres. Daraufhin gründete er 2014 die LIFT Holding, in der er seine neuen unternehmerischen Aktivitäten gebündelt hat.
Wirft man einen Blick auf das Portfolio der Unternehmensgruppe, fallen einem Dinge ins Auge, die auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheinen: neben dem Kerngeschäft der LINDIG Fördertechnik GmbH mit Produkten und Dienstleistungen rund um Intralogistik und Höhenzugangstechnik neuerdings auch die Bereiche Energie- & Umwelttechnik sowie Luftfahrt. Hier werden unter der Dachmarke LIFT Air verschiedene Luftfahrtprojekte gebündelt. Dazu gehören mit Flight Design der Weltmarkt führer für einmotorige Leichtflugzeuge, der Tragschrauber-Hersteller Rotorvox und Horten Aircraft, der Entwickler und Produzent des ersten zivilen Nurflügel-Flugzeugs.
Das erste Patent auf Nurflügel ist über 100 Jahre alt. Wegen seines geringeren Luftwiderstands kann er weiter und schneller fliegen als vergleichbare Flugzeuge mit konventionellem Rumpf und Leitwerk. Nach drei Jahren Entwicklungszeit konnten Lindig und sein Team den ersten bereits flugerprobten Prototypen vorstellen. Die HORTEN HX2 ist ein hochmodernes, wirtschaftliches, zweisitziges Leichtflugzeug. Die Weltpremiere fand auf der AERO 2019 in Friedrichshafen statt.
Wegen seiner speziellen Konstruktion ließen sich in ihm künftig auch alternative Kraftstoffe verwenden – in erster Linie Wasserstoff. Darin sieht er auch für die Luftfahrt die Zukunft, schließlich verfügt er über eine dreifach höhere Energiedichte als Kerosin und erzeugt in einer Brennstoffzelle weder Treibhausgase noch Stickoxide.
Mit diesen nachhaltigen Antrieben ergeben sich auch Möglichkeiten für neue Mobilitätskonzepte. Es gäbe in Deutschland über 400 Verkehrslandeplätze, rechnet Sven Lindig vor. Die meisten von ihnen befänden sich im ländlichen Raum. Ähnlich wie Bahnhöfe könne man sie zu Mobilitätszentren ausbauen, mit Anbindung an die jeweilige Region. Und bestenfalls an neuralgischen Punkten mit Wasserstofftankstellen ausstatten, die auch für das Umland mit genutzt werden können. „Während das Thema Wasserstoff für PKW derzeit noch viel debattiert wird – in der Luftfahrt wird das Thema mit Blick auf Gewicht und Energiedichte auf jeden Fall fliegen.“ Dass er sich die erste Wasserstofftankstelle eines Verkehrslandeplatzes in Deutschlands Mitte wünscht, versteht sich von selbst.
Doch von Ausblicken in die Zukunft geht es schnell wieder in die Gegenwart. Der Leichtflugzeug-Hersteller Flight Design ist die größte Luftfahrtaktivität der Gruppe. Die Flieger der CTBaureihe wurden bisher 2000 mal verkauft. Der ebenfalls auf der AERO 2019 neu vorgestellte Zweisitzer F2 wird nicht nur mit Verbrennungsmotor angeboten sondern fliegt batteriebetrieben auch schon elektrisch.
Der elektrische Antrieb, ob mit Batterie oder Brennstoffzelle, wird der Allgemeinen Luftfahrt durch Senkung der Betriebskosten weiter Aufwind verschaffen. Auch wenn es bis zum autonomen Fliegen noch Jahre dauern wird, gehen Studien von zukünftigen Milliardenmärkten aus. Mit VUEjet gibt es in der Gruppe auch ein Projekt, das sowohl auf heutige Möglichkeiten für den Betrieb durch Piloten als auch für autonomes Fliegen ausgelegt ist. Hierfür sind allerdings weitere Investoren notwendig.
Mit dem zweiten Blick auf das Portfolio der Gruppe wird deutlich, dass die schweren Flurförderzeuge und die leichten Fluggeräte ebenso wie der Bereich Erneuerbare Energien doch Gemeinsamkeiten aufweisen: Das Thema Energiespeicher (Akku/Wasserstoff) spielt überall eine zentrale Rolle, ebenso wie digitale Komponenten. So wird der strategische Rahmen hinter den zuerst zufällig zusammengestellt wirkenden Produktkategorien klar. Es geht um die zentrale Rolle des Wandels des Antriebs samt digitaler Intelligenz.
In diesem Jahr feiert das Familienunternehmen die Gründung im Jahr 1899, also vor 120 Jahren. Von Hufeisen und Blattfedern über Gabelstapler, Arbeitsbühnen und Fluggeräte: Hauptsache, es geht aufwärts! (tl)